Die Erschütterungs-Maschine


Milo Raus Europa-Analyse «Empire» ist ein Höhepunkt des Theatersommers.

Daniele Muscionico
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Milo Rau sucht nach den kulturellen Wurzeln Europas – und nach vergangener Schuld, die in die Gegenwart hineinwirkt. (Bild: Christoph Ruckstuhl / NZZ)

Milo Rau sucht nach den kulturellen Wurzeln Europas – und nach vergangener Schuld, die in die Gegenwart hineinwirkt. (Bild: Christoph Ruckstuhl / NZZ)

Richtig falsch beginnt der Abend. Ernüchterung beim Anblick des Bühnenbildes, einer Bilderbuch-Kriegsruine. In der Werft ereignet sich Kunst, die mit den dramaturgischen Mitteln der Verzauberung Entzauberung will. Denn das wahre Drama ist dialektisch, also unlösbar. Davon erzählt «Empire», ein Parforce-Ritt durch 2000 Jahre europäische Gewaltgeschichte, Flucht und Flüchtlingselend, privat und politisch zugleich: «Empire» ist der letzte Teil von Milo Raus «Europa-Trilogie». Zürich hat sich die Uraufführung gesichert, es folgen die Schaubühne Berlin und der Steirische Herbst in Graz. Die Tournee wird zum Triumphzug für die Beteiligten, so viel steht nach der Uraufführung fest.

Verdichtetes Leben

Denn die Mitwirkenden sind Charakterdarsteller, allen voran die rumänische Jüdin Maia Morgenstern, eine Angelopoulos-Schauspielerin und Leinwand-Partisanin seit ihrer kontroversen Rolle als Maria Magdalena in Mel Gibsons «Passion of Christ» (Morgenstern ist inzwischen Direktorin des jüdischen Theaters in Bukarest). Auf der Bühne steht auch der Grieche Akillas Karazissi, der in Fassbinders Süddeutschland zum Theater fand und in Epidauros antike Helden spielt; der Syrer Rami Khalaf, der im Exil in Paris lebt, sowie der Kurde Ramo Ali, der nach einem Gefängnisaufenthalt im berüchtigten Lager von Palmyra in Deutschland strandete.

Dank den Persönlichkeiten und dank ihren erschreckend clever verdichteten Lebensgeschichten ist «Empire» der stärkste Part der europäischen Trilogie. Rau zeigt sich hier als gedankenschärfster – und zugleich manipulativster – zeitgenössischer Schweizer Bühnenkünstler mit internationaler Wirkung. Er war schon immer ein Theater-Politiker, nun wird er zum Polit-Poeten.

Denn so plakativ der Anfang, so konstruktiv die Dekonstruktion: Auf der weiten Bühne ragt eine aus einer Häuserreihe gerissene zweigeschossige Hausfassade, der ein Bühnenbildner Gewalt angetan hat. Einzig der Balkon ist heil, ein Theater-Wunder. Denn auf dem Kunst-Balkon, oder Balkon für die Kunst, wird später im Nordirak eine in Erinnerung gerufene kurdische Mutter ihrem Kind auf seinem Schulweg nachblicken. Im Übrigen ist die Kulisse das Ergebnis der hoffnungslosen Anstrengung, im gesicherten Kunstraum zu simulieren, was Krieg sei: durch Handwerk und vorsätzliche Publikums-Bestürzung nämlich. «Empire» entlarvt sich selbst als kalkulierte Erschütterungsmaschinerie.

Die Wahrheit der Kunst ist echt

Für die Wahrheit der Kunst bürgen hier – die Kulisse dreht sich, und man sitzt in der «Küche» eines Mitwirkenden – Handyfotos von Reisen der Schauspieler zurück in die Heimat, Tondokumente des sterbenden Vaters und die der Mutter weit weg. Familienfotos oder die Marienstatue, die dem Kurden als Junge, als er von seinem Koranlehrer wissen wollte, wer «diese Frau» sei, fette Prügel eintrug.
Vier professionelle Identitätsspieler erzählen ihre Biografie und die ihrer Familien mehrere Generationen zurück. Sie berichten schlicht, zumeist ohne Pathos, nicht selten sogar mit Witz; doch ihr Ansprechpartner ist nicht das Publikum, sondern eine Videokamera.

Rau lässt die Erzähler auf der Leinwand ins Heldenhafte, Überzeitliche vergrössern und beglaubigen. Das Stück erzählt von Folter, Flucht, Trauer, Tod – und Rettung durch Kunst. Es kreiert einen Erinnerungsraum, sucht nach den kulturellen Wurzeln Europas, beschwört historische und aktuelle europäische Wenden und zeigt: Vergangene Schuld wirkt weiter als Gespenst in die Gegenwart hinein. Unsere Geschichte ist eine Kriegsgeschichte, doch wer ist verantwortlich?

Clevere Unterhaltung

Das Kunstvolle dabei: Die unterschiedlichen Lebens-Odysseen treffen und kreuzen sich auf eine geheimnisvolle Weise, als hätte ein Gott oder doch eine Schicksalsmacht die Hand im Spiel. Am Ende führt Rau die Geschichten zurück nach Griechenland und zum Anfang des Theaters. Und wie dort geht es nicht nur um Religion und Tugend – sondern auch um gute Unterhaltung. Rau weiss das, und das lässt er uns merken. Doch die Frage, ob es eine schuldlose Schuld gibt, gibt er an sein Publikum zurück. «Empire» ist das Theater von Euripides in die Gegenwart gedacht.